Ich möchte Sie einladen auf ein Gedankenexperiment. Dabei geht es zunächst einmal
weniger darum wie realitätsnah oder -fern die skizzierten Bilder sind, sondern um das
Aufzeigen grundlegender wirtschaftlicher Zusammenhänge, die den Menschen kaum
bewusst scheinen. Bereit? Dann stellen Sie sich bitte vor, sie wären in Berlin und sehen
überall unzählige freie Taxen.
Die Taxen stapeln sich am Flughafen und verstopfen die Zufahrt, man sieht lange
Schlangen an Halteplätzen ohne dass sich die Taxen in einer halben Stunde auch nur
einen Zentimeter bewegen, und an manchen Ecken der Stadt kommt es vor, dass pro
Minute zehn freie Taxen vorbeifahren. Natürlich ist das alles abhängig von Zeit und Ort,
ebenso gibt es Spitzenzeiten, in denen die überwiegende Zahl der Fahrzeuge besetzt ist.
Statistisch könnte man daraus eine Auslastungsquote basteln, die angibt, wie viel Prozent
der Zeit ein Taxi mit der Abwicklung von Fahrten (und allem was dazu gehört) beschäftigt
ist. Der Rest der Zeit sind Wartezeiten bzw. unbesetzte Fahrten ohne Auftrag.
Für unser Experiment nehmen wir mal eine Auslastungsquote von 40% an, und zwar
gemittelt über einen statistischen Zeitraum von einem Monat. (Dieser Wert entspricht
vielleicht nicht exakt der Realität, vereinfacht aber im folgenden Experiment die
Rechnung.) Die Auslastung ist auf jeden Fall unbefriedigend, und nach jahrzehntelangen
erfolglosen Versuchen, mit allerlei Kniffen die Auslastung zu steigern, wagen sich die
Taxifahrer an ein revolutionäres Experiment: Sie halbieren für einen Monat ihre
Dienstzeit. Was passiert?
Die Auslastungsquote verdoppelt sich auf 80%, das heißt, sie haben kaum noch Zeit,
einen Kaffee zu trinken oder pinkeln zu gehen. Dabei wird natürlich angenommen, dass
gleichzeitig alle anderen Parameter (insbesondere der Umsatz) konstant bleiben, und es
steigt natürlich auch nicht die Auslastungsquote bezogen auf den Fuhrpark, sondern nur
bezogen auf die Dienstzeit der Fahrer. Aber genau darum geht es. Was passiert noch?
Der Stundenlohn verdoppelt sich (rein umsatzbasierter Lohn vorausgesetzt), denn der
Monatsumsatz bleibt gleich, nur die Arbeitszeit hat sich halbiert. Klingt doch gut – oder?
Damit noch nicht genug, denn es gibt einen Haufen weiterer Effekte. Die Fahrer haben
mehr Freizeit, gleichzeitig macht die Arbeit mehr Spaß, denn die öde Wartezeit bzw. die
verzweifelte Suche nach winkenden Fahrgästen am Straßenrand fallen weg. Die Fahrer
haben bessere Laune und sind wacher. Der Leerkilometeranteil sinkt, somit die
Betriebskosten. Und so könnte man die Sache ewig weiterführen (weniger Emissionen,
weniger Verkehr, weniger Straßenbelastung...) Wow, was für ein toller Taxi-Monat!
Ein Monat Taxi-Fahren, wie es sein sollte. Doch der Monat ist vorbei. Die Erinnerung an
den hohen Stundenlohn klingt nach. Und nun denkt sich jeder Fahrer: Wenn ich bei dem
Super-Lohn pro Tag noch ein paar Stündchen dranhänge, dann könnte ich noch etwas
Geld für einen Urlaub zurücklegen. Und so versuchen alle instinktiv wieder länger zu
fahren, in der Hoffnung dadurch ihr Einkommen steigern zu können. Obendrein hat sich
der hohe Lohn herumgesprochen, und weitere Fahrer drängen ins Geschäft. Es wird
wieder schwieriger Fahrgäste zu finden. Die Konkurrenz wird größer, das Geschäft rauher.
Manch einer versucht seinen Umsatz mit unlauteren Tricks aufzubessern, sei es durch
unfaires Verhalten gegenüber Kollegen oder durch Betrug am Kunden. Andere rasen mit
überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt, denn am Ende zählt nicht Umsatz pro
Kilometer, sondern Umsatz pro Zeit. Doch egal, was sie versuchen, egal, wie sehr sie sich
auch anstrengen, um das entscheidende Quäntchen cleverer zu sein als andere Fahrer –
am Ende steigt nicht der Umsatz, sondern nur der Frust. Der Stundenlohn rutscht wieder
ab – bis zur Schmerzgrenze: Bis zu dem Punkt, an dem die Fahrer dazu neigen, den
Wagen entnervt abzustellen bzw. ganz aus dem Geschäft auszusteigen.
Was hat sich hier abgespielt?
Ganz klarer Fall: Die Taxi-Fahrer sind einer
hochgefährlichen Illusion unseres Wirtschaftssystems auf den Leim gegangen, der
Leistungs- bzw. Lohnsteigerungsillusion: Der Irrglaube, durch mehr Arbeit ließe sich mehr
Lohn erzielen. Obwohl dies in isolierter Betrachtung für den einzelnen Arbeiter theoretisch
möglich ist (nämlich zu Lasten anderer), ist dies in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung
nicht möglich. Statt dessen führt der Versuch der Mehrarbeit zu sinkenden
Stundenlöhnen, schlechterem Arbeitsklima, und höherer Arbeitslosigkeit (im Taxigewerbe
in den Wartezeiten versteckt).
Seien Sie also skeptisch, wenn Ihnen jemand erzählen will, wir müssten alle den Gürtel
enger schnallen und mehr arbeiten. Gerade in Krisenzeiten ist das Gegenteil der Fall (und
Hosenträger sind eh bequemer.)
Weniger ist manchmal mehr.